Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Der 1. Mai ist vorüber. Die Briefträgerin hatte sich auf die Demonstration gefreut, die heute öfter Umzug genannt wird, was an Räbeliechtli und Läsetsunntig erinnert. Der «Blick» schrieb dann über die 1.-Mai-Paraden. Eins passt so wenig wie das andere.
Ganz besonders freute sich die Briefträgerin auf das gemeinsame Singen der «Internationale», deren Text 1871 vom Pariser Kommunarden Eugène Pottier verfasst wurde, wie Wikipedia weiss. Pierre Degeyter, der, wie das an der Demo verteilte Liedtextflugi verriet, die Melodie dazu komponierte, war ein belgisch-französischer Sozialist. Die «Internationale» sei das «weltweit am weitesten verbreitete Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung».
Das Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung berührt das Herz.
ARBEITSWELT. Sie berührt das Herz, auch wenn die Briefträgerin inhaltlich nicht (mehr) mit allem einverstanden ist. So will sie kein Gefecht, und wäre es das letzte! Sie träumt auch nicht von der Revolution. Zu oft bringt diese nur eine neue Garnitur von Machtgierigen ans Ruder. Die Zustände aber, die das alte Lied anprangert, sind real und die aus ihnen abgeleiteten Parolen wegweisend: «Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will», «gemeinsam sind wir stark», «hoch die internationale Solidarität». Schade nur, dass die Wirklichkeit der Arbeitswelt eine andere Sprache spricht: Solidarität, Mut und Widerstand sind selten.
Das erwartete Gefühl stellte sich dann nicht ein beim Singen. Die Briefträgerin kam sich vor wie an einem Ehemaligentreffen, die erhobenen Fäuste wirkten kraftlos. Im Unterschied zum Glück zu den jungen Rednerinnen, die viel Applaus erhielten. «Schon ihre Power steckt an», sagte Mehmet, der einzige Arbeitskollege, dem die Briefträgerin an der Veranstaltung begegnete. Gesättigt und getränkt von Risotto und Sandinowein, traf sie dann an einem Stand auf die junge grüne Rednerin. Und sagte: «Ohne euch überfordern zu wollen: ihr seid Hoffnungsträgerinnen!» Die Junge schien’s zu freuen.
P. S. zum letzten Beitrag: Die Briefträgerin war bei der Schlichtungsbehörde und hat eine richtig lange Mieterstreckung erhalten, worüber sie froh und erleichtert ist. Sich wehren nützt!